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Sehr geehrte Mrs. Gledloe, mein Sohn, der an der Universität Durham studiert, plant im September eine Besichtigungstour durch Europa und hat sich bereit erklärt, als Aufsichtsperson für Frances zu agieren. Angesichts des enormen kulturellen und erzieherischen Wertes einer solchen Reise befürworte ich sie sehr und hoffe daher; dass Sie Frances in den ersten drei Wochen des nächsten Halbjahres vom Unterricht freistellen werden.
Hochachtungsvoll Alexandra Radley
Sehr geehrte Mrs. Radley;
vielen Dank für Ihren Brief vom 15. Juli. Ich fürchte, wir wären äußerst unglücklich, wenn Frances in den ersten drei Wochen des Winterhalbjahres dem Unterricht fern bleibe. Die Oberstufe ist für die Schülerinnen sehr wichtig, und wir legen großen Wert auf Anwesenheit. Selbst wenn Frances nächsten Juni ganz sicher mit guten Noten abschneiden würde, wäre ich dagegen, dass sie so viel Stoff versäumt, und angesichts ihrer schwankenden Leistungen in den Prüfungen in diesem Sommer zögere ich nicht, die Erlaubnis zu verweigern. Ich hoffe, wenn Sie darüber nachdenken, werden Sie verstehen, dass wir nur in Frances‘ Interesse handeln.
Hochachtungsvoll
J. A. Gledloe
Lexi stürzte sofort ans Telefon. Es war Samstag, aber das schreckte sie nicht ab. »So viele Gledloes kann‘s im Telefonbuch nicht geben«, sagte sie, als sie die entsprechende Seite fand und das Buch mit der Faust plattdrückte, bis der Rücken brach. »Glebe, Gledhill, da haben wir‘s.«
»Du kannst sie nicht zu Hause anrufen«, protestierte Frances, als Lexi ihr die Tür zum Flur vor der Nase zumachte. »Dad, halt sie zurück.«
»Ja, sicher wäre ich bereit, in die Schule zu kommen, um es zu besprechen«, hörte man Lexi mit ihrer salbungsvollsten Stimme sagen.
»Als ob ich das könnte«, sagte Mr. Radley und zupfte den Brief auf. »Engstirnige alte Zimtziege«, schnaubte er. »›Schwankende Leistungen!‹ Verdammte Frechheit wenn man sich schon die Mühe gemacht hat, in allen Fächern kläglich zu versagen.«
Frances zog eine Grimasse, als Lexi wieder ins Zimmer kam. »Ich spreche am Montag mit ihr«, sagte sie in einem Ton, der darauf hindeutete, dass die Schlacht bereits so gut wie gewonnen war.
»Ich komme mit«, sagte ihr Mann. »Ich würde sie gern fragen, was sie an einer Schule unterrichten, die im Vergleich mit den Uffizien oder der Sixtinischen Kapelle so gut abschneidet.« Er hatte der Schule immer noch nicht verziehen, dass sie die Daten der Schlacht an der Somme nicht weitergegeben hatte.
»Das möchte ich nicht«, sagte Lexi.
»Warum nicht?« fragte er. »Ich sehe immer gern einen Zusammenstoß zwischen zwei entschlossenen Frauen.«
Natürlich ging Lexi allein. Was sich während des Gesprächs genau abspielte ist nicht dokumentiert, aber Mrs. Gledloe war kein so leichtes Opfer, wie Lexi angenommen hatte. »Ich fürchte, mein Charme war an ihr vergeudet«, berichtete sie. »Die Frau ist selbst so völlig ohne Charme, dass sie nicht in der Lage ist, diese Eigenschaft bei jemand anderem zu erkennen.« Nach einer halbstündigen Diskussion war ein Patt erreicht worden. Mrs. Gledloe ließ sich nicht von der Vorstellung erweichen, dass Frances von der Quelle europäischer Kultur trank, während der Rest von uns die Köpfe in den Geschichtsbüchern hatte; Lexi ließ sich nicht vom relativen Gegenwert von drei Wochen Unterricht überzeugen. Mr. Radley, der ein leidenschaftlicher Gegner der Idee gewesen war, dass Frances Rad begleitete, war inzwischen, nach der ersten Andeutung institutionellen Widerstands, zum leidenschaftlichen Befürworter geworden.
»Vielleicht wäre sie glücklicher, wenn ein Elternteil mitfahren würde?«, sagte er hoffnungsvoll.
»Niemals«, sagte Frances.
»Ich hab‘s dir doch schon gesagt, für Interrail muss man unter sechsundzwanzig sein«, sagte Rad. »Wieso fährst du nicht mit Mum auf die Schönheitsfarm? Du weißt doch, dass du Übergewicht hast.«
»Ich habe Untergröße«, korrigierte Mr. Radley ihn.
»Ich will ihn nicht dabeihaben«, sagte Lexi entsetzt. »Es soll schließlich ein Urlaub sein.«
»Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, dass wir dieses Jahr zusammen irgendwo hinfahren«, sagte er.
»Das hatten wir auch«, sagte Lexi, »aber ich habe unsere Meinung geändert.«
Die letzte Mitteilung zu dem Thema bestand aus ein paar knappen Zeilen der Direktorin am Ende des Schuljahres.
Wir freuen uns darauf, Frances am 6. September zum Unterricht begrüßen zu dürfen. Eventuelles Nichterscheinen wird eine nochmalige Prüfung ihrer Berechtigung nach sich ziehen, Greenhurst weiterhin zu besuchen.
Das gab den Ausschlag.
Die einzige weitere Frage, die nun noch zur Debatte stand, waren die Schlafarrangements. Rad und Nicky hatten sich ein Zweimannzelt teilen wollen, aber Lexi fand es wichtig, dass Frances getrennt untergebracht wurde.
»Es ist ja nicht so, als könnten wir irgendwas anstellen, wenn Rad dabei ist«, murrte Frances.
»Ich könnte mich zwischen die beiden legen wie ein Schwert«, bot Rad an, aber das fanden seine Eltern nicht ausreichend. Ich interessierte mich sehr für dieses Problem, da ich mich schon seit einiger Zeit fragte, ob Nicky und Frances miteinander schliefen. Die Art, wie sie in der Öffentlichkeit miteinander umgingen, ließ noch größere Freiheiten unter Ausschluss der Öffentlichkeit vermuten, aber ich traute mich nicht, sie zu fragen. Die Antwort wäre entweder ein entrüstetes »Natürlich nicht!« oder ein entrüstetes »Natürlich!«, gewesen. Als wir etwa zwölf waren, hatte Frances angedeutet, dass sie nie einen Jungen an sich »herumfummeln« lassen würde, aber im Lauf der Zeit hatte sie ihre Überzeugungen offensichtlich etwas revidiert.
Ein paar Tage, bevor sie losfahren wollten, fragte ich Frances beiläufig, ob sie ihr Tagebuch mitnehmen würde, und sie gestand, dass sie keins mehr führte. Oh ha, dachte ich, und ob sie »es« getan haben. Hatte Lexi nicht gesagt, Jungfräulichkeit und Tagebuchführen hingen miteinander zusammen?
Lexis Lösung für das Problem der Unterbringung bestand darin, Frances ein eigenes, brandneues Zelt zu schenken. »Das ist für dich, und die Jungs können sich das andere teilen«, sagte sie und fixierte Nicky mit bedeutungsvollem Blick.
Als sie aus dem Urlaub zurückkamen, erzählte mir Frances, sie hätten am ersten Abend das Zelt ausgepackt, damit Rad darin schlafen konnte, und festgestellt, dass Lexi aus Versehen ein Zelt gekauft hatte, mit dem man ein tragbares Klo umgeben konnte. »Ich werde so tun müssen, als hätte ich im Stehen geschlafen«, sagte sie lachend.
Sie waren den ganzen September weg. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass ein Monat so lang sein konnte. Die Frage, ob ich sie hätte begleiten können, hatte sich nicht gestellt. Meine Mutter hätte mir nie erlaubt, auch nur einen Tag Unterricht zu versäumen, und war schockiert darüber, dass die Radleys die Schwänzerei ihrer Tochter auch noch unterstützten. Ich hatte angeboten, in der letzten Ferienwoche auf Granny aufzupassen, um meine Eltern zu entlasten. Diese Selbstlosigkeit meinerseits hatte sie in ein Dilemma gebracht: Einerseits hatten sie Angst, mich unbeaufsichtigt zurückzulassen, andererseits den verzweifelten Wunsch, einmal rauszukommen.
Die Situation zu Hause wurde langsam unerträglich, da die Ansprüche meiner Großmutter immer größer wurden. Sie erwartete alles und war dankbar für nichts. Es war unmöglich, ihr eine einmalige Gefälligkeit zu erweisen, wie ihr etwas vorzulesen, sie auszuführen, ihr die Haare zu waschen und zu legen oder ihr das Frühstück ans Bett zu bringen, ohne dass sie es bösartig kommentierte. »Es wird langsam Zeit, dass mir jemand etwas vorliest. Kannst du dir vorstellen, dass ich gestern von sieben Uhr morgens bis zum Abendbrot hier gesessen habe, ohne eine Menschenseele zu sehen? So was von langweilig: Ich bin froh, wenn ich tot bin. Und ihr auch, kann ich mir vorstellen.« Was vielleicht als Gefälligkeit begann, wurde schnell zur Pflicht. Eine besondere Freude wurde im Handumdrehen als Recht angesehen. Und, so ist die menschliche Natur, obwohl die Erfüllung dieser Pflicht ihr anscheinend keine Freude bereitete, gab ihre Vernachlässigung Anlass für die bittersten Vorwürfe.
Nicht zufrieden damit, bei Tage die unhöflichste Kranke zu sein, die man sich vorstellen konnte, hatte Granny eine akute Schlaflosigkeit entwickelt und vertrieb sich die Stunden vor der Morgendämmerung damit, in voller Lautstärke Radio zu hören. Glücklicherweise lag mein Zimmer am anderen Ende des Treppenabsatzes, aber meine Eltern, deren Zimmer neben Grannys war, mussten das nächtliche Bombardement ertragen. Sie hatten schon verschiedene Tricks versucht, um den Lärm zu reduzieren. Vater kaufte einen Adapter mit eigenem Hörer, den Granny tragen sollte wie ein Hörgerät, aber sie zappelte im Bett und verhedderte sich im Kabel und riss es schließlich frustriert aus der Steckdose. Dann kaufte er ein spezielles Zusatzteil für den Lautsprecher, das dünn genug war, dass es unter ein Kissen passte, aber Granny, die sich die Empfindsamkeit einer Prinzessin auf der Erbse zugelegt zu haben schien, behauptete, es wäre wie auf einem Backstein zu liegen.
Meine Eltern hatten die Möglichkeit geprüft, meine Großmutter eine Woche lang in einem Heim unterzubringen, damit wir drei zusammen wegfahren konnten, aber ein wirklich sehr kurzer Blick reichte aus, um sie davon zu überzeugen, dass dies kein Erfolg versprechendes Arrangement sein würde.
»Es wäre dem Pflegepersonal oder den Insassen, ich meine Bewohnern, gegenüber nicht fair«, sagte Mutter eines Abends, als sie von der Inspektion einiger Institutionen zurückkam. »Im letzten schienen sie gerade gemeinsam zu singen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie da mitmacht.«
Die billigeren Heime waren zu deprimierend, hatten Zweibettzimmer, es lief den ganzen Tag über ITV, die Bewohner spielten Bingo oder waren katatonisch, und es stank nach Urin. Die teuren rochen zwar besser und hatten hübschere Tapeten, waren aber, nun ja, teuer.
»Wie schade«, sagte Vater, während er eine Hochglanzbroschüre mit Bildern von gepflegten, lächelnden älteren Frauen und gepflegten, lächelnden Schwestern überflog, die in etwas saßen, das aussah wie die Parkanlagen eines herrschaftlichen Anwesens. »In diesen Häusern kriegt man offensichtlich eine bessere Form von Demenz.«
»Ich lasse mich nicht abschieben«, erwiderte Großmutter, als das Thema angeschnitten wurde. »Ich bin durchaus in der Lage, auf mich selbst aufzupassen. Eine Woche lang«, fügte sie hinzu, damit niemand auf falsche Ideen kam.
»Wir lassen dich nicht allein. Stell dir vor, du fällst hin!«, sagte Mutter.
»Ich habe doch gesagt, ich bleibe hier. Ich passe ganz gern auf Granny auf«, sagte ich, »Eine Woche lang.«
Da dies die beste Lösung war, fuhren Mutter und Vater in ihren Wanderurlaub in Snowdonia. Mit den Schuldgefühlen, Granny zurückzulassen und den Sorgen, mich allein zu lassen, würden sie garantiert eine schreckliche Zeit haben.
»Hier ist unsere Telefonnummer am ersten Abend«, sagte Mutter und händigte mir ein DIN-A4-Blatt mit allen Details ihrer Reiseroute aus. »Das Cottage hat kein Telefon, aber tagsüber kannst du eine Nachricht bei der Post hinterlassen. Und wenn du uns abends erreichen musst, gegenüber ist ein Pub, und du wählst diese Nummer und fragst nach Mr. Pollitt, dann holt er uns.«
Ich nickte, ohne wirklich zuzuhören. Über ihre Schulter hinweg sah ich, wie Vater mit einer Kiste Vorräte zum Auto schwankte. Das machten sie immer: Sie kauften alles vorher ein, überließen nichts dem Zufall, für den Fall, dass Müsli oder Earl Grey in Wales schwer zu kriegen wäre. »Ich rufe dich jeden Abend um fünf nach sechs von der Telefonzelle aus an. Wenn du nicht abnimmst, versuche ich es noch mal um zehn.« Mutters Stimme leierte weiter. »... Im Sekretär ist etwas Geld für Notfälle. Vergiss nicht, die Rosen zu gießen, wenn es trocken ist - benutz nicht den Sprinkler, davon werden die Blütenblätter braun. Die Hängekörbchen müssen jeden Tag gegossen werden. Oh, und es ist noch etwas Gehacktes im Kühlschrank, das fast schlecht ist, das muss gegessen werden. Viel Spaß.«
Die Woche wurde nur von einem knackenden Telefonanruf von Frances belebt. Sie hatte kaum Zeit, die Information zu übermitteln, dass sie in Rom seien, sich blendend amüsierten, dass es knallheiß sei und sie gerade aus der Peterskirche geworfen worden sei, weil sie eine kurze Hose trüge, bevor die Leitung tot war. Das war meine einzige Nachricht von den Europareisenden, abgesehen von einer Postkarte, die an dem Tag ankam, als sie zurückkommen wollten. Jeder hatte eine Zeile darauf gekritzelt.
Obwohl mein heilig gesprochener Namensvetter angeblich Tiere liebte, sind in der Basilika »Hunde verboten!« Das würde Growth nicht gefallen. Frances.
Wir haben den verknöcherten Überresten der Heiligen Klara und Franz unsere Aufwartung gemacht. Sehr erpicht auf Knochen, diese Katholiken. Das würde Growth gefallen. Rad.
Wir schreiben das in einem Ristorante. Kalbfleisch exzellent. Nicky.
Bei Frances‘ Rückkehr war ihr Empfang in der Schule nicht wärmer als im Vatikan. Mrs. Gledloes Ankündigung war keine leere Drohung gewesen, und die Radleys wurden aufgefordert, Frances von Greenhurst zu nehmen, damit sie nicht als erstes Mädchen in der Geschichte der Schule ausgeschlossen wurde. Dementsprechend wechselte sie zum örtlichen Oberstufengymnasium - ein Glas- und Betonblock aus den Sechzigern in der Innenstadt wo sie Jeans tragen, in der Kantine rauchen und am Unterricht teilnehmen durfte, wenn sie Lust hatte. Die zweite dieser Freiheiten interessierte sie nicht, doch von der ersten und dritten machte sie jeden nur möglichen Gebrauch, und ihre jeansbekleidete Gestalt ward in diesen graffitibemalten Hallen nur gelegentlich gesehen.